Singen mit dem Spiegel hilft… welche Fehler machst du mir bekannt?

Oder … lieb ich mich nicht, dann sei verbannt.

Im Schauspiel, beim Gesang, vor allem aber im Ballett benutzt man Spiegel zur Selbstkontrolle. Viele Bewegungen empfindet man selbst als durchaus richtig, bis man sieht, dass – wenn man sie im Spiegel wahrgenommen -, diese letztendlich nach außen hin ganz anders wirken.

In meinem Gesangsstudio habe ich einen übermannshohen Spiegel, der den Gesang Lernenden hilft, Kontrolle bei der richtigen Körper- und Gesichtsspannung zu leisten.

Einige nehmen dieses Kontrollinstrument sehr gerne an. Denn es zeigt, dass man oftmals eine ganz andere Wahrnehmung der eigenen Körperspannung, der Lippenspannung oder der Körperhaltung hat, als sie in Wirklichkeit ist.

Immer wieder höre ich aber auch von einigen Gesangsschülern, dass sie sich nicht so gern im Spiegel sehen. Es ist ihnen eher unangenehm. Neulich geschah eben dies wieder einmal. Der Mund einer Schülerin wollte sich trotz mehrfacher Aufforderungen einfach nicht richtig öffnen, was gerade bei höheren Tönen doch empfehlenswert ist. Ich empfahl, sich doch im Spiegel zu kontrollieren, dann würde sie sehen, dass der Mund bei weitem nicht so weit auf sei, wie sie dies vermutlich dachte.

Selbstliebe lernen im Gesang mithilfe des Spiegels als Kontrollinstrument

Sie guckte von der Seite in den Spiegel und wehrte sich dann, in denselben zu blicken. Ich fragte natürlich nach, warum sie den Spiegel nicht als Hilfe wolle. Und weiter, ob sie sich etwa nicht genug selbst liebe. Daraufhin brach diese – in ihrem Beruf sehr kompetente und auch sonst sehr sympathische – Dame fast in Tränen aus. Ich hatte genau ihren wunden Punkt getroffen. Es war eindeutig: Sie liebt sich selbst nicht genug.

Doch geht es vielen ebenso. Und ich kann mich erinnern, dass auch ich als Jugendliche lange Schwierigkeiten hatte, mich im Spiegel zu kontrollieren. War es die Angst, dass ich mir nicht gut genug vorkam? Dass man das Gefühl hat, es ist alles unvollkommen an einem?

Zeigt der Spiegel etwa auch zu viel von dem, was wir an uns nicht schätzen. Oder härter gesagt, dass wir uns nicht schätzen? Die eigene Wertschätzung kommt nämlich häufig zu kurz.

Deshalb opfern sich viele für andere geradezu auf. Denn dann kommt ihnen in jedem Fall Wertschätzung entgegen. Dies geschieht sicher häufig unbeabsichtigt, denn der Wunsch nach Anerkennung ist tief in uns vergraben. Doch nur, wenn wir uns selbst lieben, können wir auch andere wahrhaftig lieben. Und nur dann dem anderen echte Wertschätzung ohne Erwartungshaltung entgegenbringen.

Wie heißt es schon in der Bibel: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wie wahr diese Worte sind.

Der Blick in den Spiegel kann die Freude am Singen verstärken

Nur, wie können wir dem Leben und den Aufgaben, die es uns stellt, wirklich offen begegnen, wenn wir nicht einmal ehrlich zu uns selbst sind. Und welche Gründe sind es tatsächlich, sich selbst nicht im Spiegel ansehen zu wollen. Heißt, welche Gründe gibt es, sich nicht zu lieben?

Oftmals sind Menschen, die sich nicht im Spiegel anschauen wollen, perfektionssüchtig. Und weil sie erwarten, dass das, was sie im Spiegel sehen werden, nicht perfekt sein wird, wollen sie erst gar nicht hineinschauen. Seien wir doch mal ganz ehrlich: Sind Fehler nicht auch manchmal liebenswert? Und lieben wir z. B. Partner, Kinder, Freunde, Hund und Katze nicht auch gerade wegen deren Mängel? Gut, das kann auch wieder andere Gründe haben (nämlich, weil wir uns dann wieder besser fühlen), aber Fakt ist, Fehler gehören zum Leben. Ich würde sogar sagen, Fehler sind lebensnotwendig. Ohne sie wüssten wir nicht, was perfekt ist. Also, wer will schon immer perfekt sein?

Der Spiegel zeigt uns, wie wir nach außen wirken. Er hilft uns aber auch, Fehler, die uns behindern, zu eliminieren. Gerade im darstellenden Bereich hilft er, Lippenmuskel- und Körperspannungen zu verbessern und unser Körpergedächtnis zu aktivieren und zu trainieren.

Deshalb keine Angst vor dem Spiegel. Er ist kein Feind, sondern unser Verbündeter in puncto Selbstliebe.

Dies merkte auch besagte Dame, nachdem wir dies bewusst gemacht haben und ich sie auch wieder aufbauen konnte. Eine Freude war es, dass  sie am Ende der Stunde mit sichtlichem Mut und zunehmender Entspannung sang. Sie produzierte plötzlich Töne, die sie vorher nicht an sich kannte. Die Tränen waren getrocknet und sie ging mit einem strahlenden Gesicht aus der Stunde. Ich bin mir sicher: Bei der nächsten Stunde wird sie viel weniger Angst vor dem eigenen Spiegelbild haben.

Fazit: Es schadet nichts, öfter mal ganz bewusst in den Spiegel zu schauen und sich selbst zu sehen … nicht den Pickel, der stört oder das Fältchen, das sich plötzlich eingenistet hat. Sich annehmen, wie man ist und sich selbst wertschätzen. Und falsche Spannungen im Innen und Außen auflösen.