Gehörbildung ist lernbarImmer wieder stelle ich fest, dass viele Menschen, die zu mir kommen, um Singen zu lernen, leider ein unzureichendes Gehör haben. Sie tun sich schwer mit Intervallerkennung, sogar ein Ganzton ist manchmal eine schier unüberwindliche Hürde. Häufig zeigt sich, dass in der Jugend nie oder sehr wenig in der Familie musiziert wurde.

Das Gehör ist vereinzelt sogar so vernachlässigt, dass von den betroffenen Personen nicht einmal erkannt werden kann, ob sie die Tonleiter auf- oder abwärts singen.

Trotzdem tun sich auch solche Gesangsschüler schwer, die regelmäßig musizieren, z. B. haben manche große Schwierigkeiten beim vom Blatt singen.

Große Probleme gibt es vor allem bei absoluten Gesangsanfängern, wenn ich auf dem Klavier einen Ton anschlage und er soll nachgesungen werden. Manchmal gibt es bis zu 3-4 Anläufe, bis der richtige Ton kommt. Dies geschieht anfangs oft, weil krampfhaft versucht wird, mit dem Verstand den Ton einzuschätzen. Ich bitte dann, ganz bewusst den Verstand loszulassen und den Ton einfach im Körper zu spüren. Wo schlägt er dort an? Dabei habe ich festgestellt, dass zu 95% der dann gesungene Ton bei dieser Art des Fühlen/Hörens sofort richtig ist. Die Schwingungen, die vom Klavier oder auch von mir produziert werden, setzen sich im Körper des Lernenden fort. Der Ton wird deshalb fast immer auch in der richtigen Höhe gespürt und kann dann problemfrei wiedergegeben werden.

Unser Ohr, das unbekannte Organ

Gehörbildung ist natürlich auch von der Veranlagung her für den einen leichter, für den anderen schwieriger. Dennoch ist es ausbaufähig auch bei in dieser Hinsicht unbegabteren Menschen, wenn sie nicht schwerhörig oder völlig taub sind, an Tinnitus oder sonstiger schweren Ohrenkrankheit leiden. Es ist wie fast alles im Leben eine Übungssache.

Unser Ohr ist ein hochkompliziertes Gebilde, das in drei anatomische Bereichen eingeteilt wird:

  •  – Äußeres Ohr
  •  – Mittleres Ohr
  •  – Innenohr

Das äußere Ohr ist die sogenannte Hörmuschel, die den Schall sammelt. Von dort wird er weitergeleitet durch den engeren Gehörgang zum Trommelfell und in Schwingungen versetzt. Gleichzeitig trennt das Trommelfell den äußeren Gehörgang vom Mittelohr ab.

Den Raum hinter dem Trommelfell nennt man Paukenhöhle, diese ist mit Luft gefüllt und beherbergt drei Gehörknöchelchen, Hammer, Amboss, Steigbügel. Sie sind zuständig dafür, dass der Schall ins innere Ohr weitergeleitet wird. Die Paukenhöhle ist über die Ohrtrompete, auch Eustachische Röhre genannt, mit dem Nasenrachenraum verbunden.

Das innere Ohr ist mit Lymphflüssigkeit gefüllt. Hier befinden sich das Gleichgewichtsorgan und die Gehörschnecke (Cochlea). Die Schwingungen werden nun in elektrische Impulse umgewandelt und vom Hörnerv an das Gehirn weitergeleitet.

Vom äußeren Ohr kommen die Schallwellen, bedingt durch die Windungen des Gehörgangs und des Trommelfells bereits verändert im mittleren Ohr an. Deshalb hören wir uns selbst meist etwas anders als wenn wir uns z. B. bei einer Aufnahme hören.

In dem Buch „Die Sängerstimme“ von Wolfram Seidner und Jürgen Wendler wird der Frequenzbereich , den das menschliche Ohr erfassen kann, zwischen 20 Hz und 20.000 Hz angegeben, dies entspricht einem Umfang von 10-11 Oktaven. Weiter schreiben sie: „Die Anzahl der wahrnehmbaren unterschiedlichen Tonhöhen wird auf 800 bis 900 geschätzt. […] Die Zeitdauer, die erforderlich ist, um eine Tonhöhe erkennen zu können, liegt in der Größenordnung von 50 ms.“

Dies ist nur ein grober Umriss um die Wirkungsweise des menschlichen Ohres. Wer mehr darüber wissen möchte, kann sich bei Wikipedia informieren.

Warum und für wen ist Gehörbildung wichtig

Gehörbildung ist für jeden, der mit Musik zu tun hat, wichtig. Für berufsmäßige Musiker,  Sänger und Lehrer sogar notwendig. Wer als Sänger „einspringen“ muss für eine(n) erkrankte(n) Kollegen/Kollegin, muss manchmal innerhalb weniger Stunden oder Tage Stücke lernen. Wer dann nicht Blattlesen und schnellstens etwaige Änderungen umsetzen kann, wird so schnell nicht mehr geholt.

Bei Schulprüfungen im Fach Musik, bei Engagements in Chor oder Solofach wird vielfach verlangt, dass man ein Stück vom Blatt singen kann.

Es lernt sich wesentlich schneller und leichter, wenn man Intervalle, Rhythmus und Notenfolge kennt und lesen kann.

Sehen wir uns an, welche Möglichkeiten es gibt, sein Gehör zu trainieren.

Vom Blatt singen lernen – Übung macht den Meister

Es gibt verschiedene Arten, Gehörbildung zu betreiben. Am einfachsten ist es erstmal, mit jemand zusammen zu üben. Vielleicht der Lehrer, ein Freund oder Freundin etc. Hier gibt derjenige einen Ton an und von dem aus sollte man bestimmte Intervalle treffen.

Es macht auch Sinn, sich die Intervalle von bestimmten Liedern zu merken. So kann man sich die immer geistig abrufen. Ein Beispiel ist „Alle meine Entchen“ mit einer großen Sekunde anfangs. Oder „Hänschen klein“ beginnend mit einer Terz abwärts. „Oh Tannenbaum“ mit einer Quart am Anfang. So kann man sich viele Beispiele zusammenstellen und darauf zurückgreifen.

Eine gute Seite für das Selbsttraining seines Gehörs findet man hier mit einem virtuellen Instrument http://www.musikwissenschaften.de/interaktiv/gb/. Noten lesen sollte man allerdings können. Aber auch das kann man lernen …

Wer ein Instrument hat, kann z. B. Folgendes machen. Er nimmt ein ihm unbekanntes Lied und spielt den Ausgangston des Stückes. Dann versucht er, die darauffolgenden Intervalle zu treffen und korrigiert jeden Ton mit dem Instrument nach. Man kann sich die Intervalle regelrecht mathematisch zusammenbauen, z. B. eine kleine Terz besteht aus einem Ganzton und einem Halbton. Eine Quint aus zwei Terzen etc. Selbstverständlich geht das auch mit einem virtuellen Instrument im Internet. Am besten fängt man mit Dur-Tonarten an.

Es macht Spaß, sich mit einer Freundin, einem Freund oder Partner/in gegenseitig Liedanfänge vorzusingen und der andere muss lösen, welches Intervall das war. Es gibt viele Möglichkeiten, mit denen man das Blattlesen lernen kann ohne dass es trocken oder langweilig wird.

Sinnvoll ist auch, gleichzeitig auf Rhythmus und Tonart zu achten. Dabei klatscht man am besten den Rhythmus oder spricht den Text rhythmisch mit.

Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass Menschen mit einem anfangs schlechten Gehör bei regelmäßiger Übung Fortschritte machen. Wer nur jeden Tag 10 Minuten mit Gehörbildung verbringt, kommt dem Ziel bald näher. Auch Hänschen war mal klein …